du
Textbeispiele
La concentration oder Die türkischen Vokabeln vor dem Einschlafen
Annäherungen an Maurice Jarre
"Monsieur Jarre, vous avez déjà composé quelque chose dans cette
nouvelle année?" - Wir schreiben den 3. Januar. - "Cette année?" fragt
Jarre zurück, mit tenoraler Stimme, die stets irgendwie unter Hochdruck
zu stehen scheint, und seine Augen blitzen lebhaft. "Non." Er habe das
Glück gehabt, mit den grössten Filmregisseuren zusammenzuarbeiten, so
mit David Lean, Peter Weir, Luchino Visconti, Alfred Hitchcock...
"Maintenant, je peux choisir!" So viele Skripts seien wieder ins Haus
geflattert, doch gebe es einfach nichts Interessantes. Oder aber, räumt
er sofort ein, während er mir die Tür zum Salon öffnet, das Interessante
sei ihm nicht angeboten worden. Was doch zeigt, dass die Freiheit der
Wahl selbst bei einem Maurice Jarre nur eine beschränkte ist. Zum
Beispiel sei er von Oliver Stone zwar kontaktiert worden für dessen Film
über Alexander den Grossen, aber dann habe er nichts mehr von ihm
gehört. Wer schliesslich den Auftrag bekommen habe, wisse er nicht.
Gleich zu Beginn meiner Vorbereitungsarbeiten für dieses Gespräch gab es
einen kleinen Ärger, der jedoch, wie so oft im Leben, auch seine gute
Seite hatte: Nach dem Abendessen hatte ich mich hingesetzt, um mir
Lawrence of Arabia anzusehen. Das Glas Rotwein stand bereit, die Zigarre
war angeschnitten, der Abend begann verheissungsvoll. Aber beim
Zählerstand 7.52 blieb der Film stehen. Ich begann wieder von vorn, die
Scheibe wurde neu eingelesen. Wieder erklang die wundervoll kantable
Ouvertüre - ohne Bild übrigens, wie vom Regisseur gewünscht - mit den
eingängigen Themen, die sich später als Leitmotive erweisen sollten. Ich
vergass meinen Ärger für ein paar kostbare, erwartungsvolle Sekunden
und schwelgte in den Jarreschen Klängen des London Symphony Orchestra.
Aber bei Zählerstand 7.52, kaum war die erste Szene mit dem
Motorradunfall wieder vorbei, blieb der Film erneut stehen. Ich liess
mir noch einige Varianten von digitaler List einfallen, erfolglos, und
auch nach Überspringen der kritischen Stelle per Szenenauswahl-Programm
kam der Film bald wieder ins Stocken. Meine verzweifelten Experimente
führten aber immerhin dazu, dass ich an diesem insgesamt recht kurzen
Filmabend die Einleitungsmusik zu David Leans Meisterwerk mindestens
fünf mal hörte. Mein DVD-Spieler musste anderntags ausgewechselt werden,
aber die Ouvertüre von Maurice Jarre hatte sich mir umso tiefer
eingeprägt. Sie erinnerte mich in ihrem melodiösen Gestus, in Ausdruck
und orchestraler Färbung sehr an den intensiven Streicher- und
Bläsersound eines Orchesterstücks von Peter Ilitsch Tschaikowski mit dem
Titel Fatum, freilich nicht im Sinne eines Plagiats, sondern einer
musikalischen Geistesverwandtschaft.
Meine zweite Frage an Maurice Jarre lautete denn auch, welche Affinität
er zur Epoche der Romantik spüre, und wie wichtig ihm Tschaikowski sei.
Wir hatten uns endlich hingesetzt, im Salon mit dem schwarzen Steinway,
nach Überwindung einer langen abwärts führenden Treppe, eines für ein
Steilhanghaus (hier mit schöner Aussicht auf die Oberengadiner Ebene)
typischen Weges, in dessen Verlauf wir zweimal Station machten, einmal,
um meine schneematschigen Schuhe mit schneeweissen Filzpantoffeln zu
vertauschen, später, um meine Jacke umständlichst an einen silbernen
Kleiderbügel zu hängen, wobei mir der Schal gleich zweimal zu Boden
fiel. Nun sass ich also dem Komponisten gegenüber, der für weit über
hundert Filme die Musik geschrieben hat und dessen Name auf allen
Leinwänden der Welt über den Abspann flimmert, diesem ebenso bescheiden
wie anfangs etwas scheu wirkenden Altmeister, der in seinem blauen
Pullover und den grauen Flanellhosen eher wie ein unauffälliger Rentner,
ein in Ehren ergrauter Prokurist oder Elektriker, auf mich
wirkte."Sehen Sie" gab er zur Antwort, "die Romantik... nun ja, was
heisst da Romantik... also wenn Sie mich fragen, welcher Komponist mir
der Wichtigste und der Liebste ist, dann sage ich: Mozart." Das hatte
ich nicht erwartet, nicht als Hörer von Jarres Filmmusik und ebensowenig
als einer, dem Mozart selbst über alles geht! Ein spontaner Händedruck
war die Folge, womit das Gespräch fast eine Wendung zur Herzlichkeit
nahm und gleich so richtig in Fahrt kam. Auf Mozart nimmt Jarre in der
Folge immer wieder Bezug. Er bezeichnet ihn als Vorbild in Sachen
Melodiefindung und misst dem Wiener Klassiker auch hohe romantische
Qualitäten bei, besonders was die langsamen Sätze seiner Klavierkonzerte
angehe. "Sehen Sie, Mozart ist ein wunderbarer Melodiker, und das
Wichtigste beim Komponieren besteht nun einmal darin, die gute Melodie
zu finden. Für mich kommt sie an erster Stelle, an zweiter der Rhythmus,
und erst an dritter Stelle Harmonie und Orchestrierung. Es ist wie in
der Küche. Sie können noch so gute Saucen herstellen, doch wenn im
Mittelpunkt das Wesentliche fehlt, ist eben alles nur Sauce!" Wenn er
zu komponieren anfange, dann gehe es ihm um die ersten vier, fünf Töne.
Das erfordere eine ungeheure Konzentration - ein Wort, das er noch oft
zitieren wird. Tschaikowski, um nochmals auf ihn zurückzukommen, (das
Orchesterstück Fatum war ihm kein Begriff), sei natürlich ein grosser
Komponist und ebenfalls ein hervorragender Melodiker, aber seine Musik,
bei allem Respekt, komme ihm oft vor "... comme un gâteau ... un peu
trop sucré." Dennoch: das slawische Element in Jarres Musik ist nicht
von der Hand zu weisen. Nicht von ungefähr nennt er später doch noch
Dvorak, Bartok und Schostakowitsch als weitere Lieblingskomponisten.
Und auch Liszt spielt, wie er später noch ausführen wird, eine wichtige
Rolle in seinem Leben.
Nachdem die "Aufwärmphase" unseres Gesprächs überstanden war, kam
Maurice Jarre auf das Engadin zu sprechen, das er über alles liebe. Eine
Liebe, die in seiner Engadiner Suite mit ihren vier nach den
Jahreszeiten bezeichneten Sätzen musikalischen Ausdruck gefunden hat
(auf CD bei EMI in einer ausgezeichneten Einspielung des Ahn-Trio
greifbar). Auch in Malibu, seinem kalifornischen Zweitwohnsitz, sei es
still. "Ich habe mein ganzes Leben lang Musik komponiert, aber die beste
Art von Musik ist für mich immer noch die Stille." Eine entsprechende
Frage zu diesem Thema hatte ich ebenfalls vorbereitet: "Was bedeutet
Ihnen die Stille im Film? Sind die langen, absolut stummen Szenen Teil
Ihres musikalischen Konzepts?" - "Oui, c'est vrai." Am Ende von
Shakespears Hamlet stehe schliesslich der Satz "And the rest is
silence." In David Leans Filmen herrsche oft ein akustischer Zustand
zwischen Geräusch und Stille. So wie in Malibu, wo es viele Pappeln
gebe. Wenn ein leichter Wind wehe, sähen deren Blätter aus wie
Schmetterlinge, und es erklinge eine musique de feuille, welche die
Stille als ein leises Rauschen wahrnehmbar mache. "Huuuuh!" haucht
Maurice Jarre. Solche Geräusche der Stille seien Lean sehr wichtig
gewesen, und er habe Wert darauf gelegt, dass die Musik dann allmählich
aus dieser Stille heraus entstanden sei. Jarres kompositorische
Oekonomie beeindruckt in allen von ihm beschallten Filmen. Selbst in
Lawrence, einem Film, der nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch
als einzige grosse Symphonie konzipiert ist - die Leitmotivtechnik
spannt den musikalischen Bogen übers ganze Werk, wobei Monotonie durch
die fast unendliche Wandlungsfähigkeit der Motive vermieden wird -
selbst in diesem filmischen Monumentalwerk wird es immer wieder still.
Und Stimmungen wie etwa Erschöpfung in sengender Wüstenhitze oder das
blosse unbarmherzige Brennen der Sonne am Himmel werden durch intensiv
leise elektronische Sphärenklänge, vom legendären Instrument Ondes
Martenot (einem Vorläufer des Synthesizer) erzeugt, akustisch
wahrnehmbar gemacht. Auch Jarres Intuition für die dramaturgische
Gestalt des Films ist untrüglich. Spielfilmen mit grossen
landschaftlichen Szenarien, wie Lawrence oder I Dreamed of Africa
verpasst er den oben skizzierten symphonischen Charakter, bei eher
kammerspielartigen Filmen, wie z.B. in The Dead Poets Society, kommt
musikdramaturgisch ein ganz anderes, lakonischer dosiertes Konzept zur
Anwendung. Hier spielt der Komponist das Handwerk des ehemaligen
Theatermusikers aus, der mit so grossen Dramatikern wie Albert Camus,
Jean Cocteau und Harold Pinter gearbeitet hat.Untrüglicher Sinn für
Ökonomie, und doch ein fast unerschöpfliches Repertoire von
Kompositionstechniken und musikalischen Ausdrucksmitteln. Sie reichen
von der symphonischen Form über vertrackt anmutende fugierte Passagen
bis zu den Extremwerten elektronischer Sphärenklänge oder, auf der
andern Seite der Palette, zum schmissigen Militärmarsch der konzertanten
Spitzenklasse. Das kompositorische Rüstzeug hat sich Jarre nicht
zuletzt auch bei Arthur Honegger geholt, einem Komponisten, der (was
viel zu wenig bekannt ist) selbst mehr als dreissig Filmmusiken
geschaffen hat. Bei ihm genoss er, parallel zu seinen Studien am
Conservatoire, Privatunterricht. Er schildert Honegger als
unprätentiösen homme très formidable, der immer betont habe, dass er ihm
nicht das Komponieren beibringen, sondern nur zeigen könne, wie die
grossen Meisterwerke der Musikgeschichte gemacht seien. Auffällig ist
neben den klassischen Formen das breite Repertoire an aussereuropäischer
Folklore, die verblüffend original klingt, egal ob es sich dabei um
arabische (zB. Lawrence; The Message), indische (The Man who would be
the King; A Passage to India) oder afrikanische (I Dreamed of Africa)
Volksmusik handelt. Wobei nur in seltenen Fällen eine blosse
fachgerechte Instrumentierung genügt. Das berühmte Lied der Lara,
dieser unvergleichliche Evergreen der Filmmusik, auf welchem die ganze
Schiwago-Musik aufbaut, ist ein solches Beispiel: Jarre findet die
Melodie nicht besonders russisch, aber er habe sie eben russifiziert.
Mit der Balalaika! Wo holte dieser Franzose, der übrigens eine Chinesin
zur Frau hat, seine stupenden Kenntnisse der ethnischen Musikstile?
Ganz einfach: In der Zeit seiner Studien am Conservatoire National de
Paris war es unter Direktor Claude Delvaincourt Vorschrift, dass jeder
Absolvent der Dirigentenklasse fünf aussereuropäischen Musikrichtungen
studieren musste. Jarre verfolgte diese Studien mit grossem Interesse,
ohne zu ahnen, wie wichtig sie ihm rund dreissig Jahre später einmal
werden sollten.
Orchesterdirigent? Maurice Jarre ist eben nicht auf den Begriff
Filmkomponist festzulegen. "Wie kamen Sie als Kind zur Musik, Monsieur
Jarre?" Die Ausführungen zu dieser Frage sind erstaunlich. Bis zu seinem
16. Lebensjahr sei er nie mit klassischer Musik in Berührung gekommen.
Sein Vater war zwar technischer Leiter bei Radio France, jedoch an
klassischer Musik nicht weiter interessiert. Als Maurice 16 Jahre alt
war, brachte jener dennoch einmal eine Schallplatte mit nach Hause:
Franz Liszt, 2. Ungarische Rhapsodie, gespielt vom Philadelphia
Orchestra unter Leopold Stokowski. Das war die Offenbarung für den
Adoleszenten! Der sogleich erkannte: Das ist Musik! Und das will ich
werden: Orchesterdirigent! Aber wie willst du das anstellen, fragten die
Eltern, wo du nicht einmal Noten lesen kannst? Jarre liess sich nicht
beirren, sondern belegte sogleich Kurse in Solfège, Kontrapunkt und
Harmonielehre. Für die Erlernung eines Instruments wie Klavier oder
Violine war es leider schon zu spät, aber seine Lehrer rieten ihm zum
Schlagzeug. Mit seinem guten Gehör und dem ausgeprägten Sinn für
Rhythmus schaffe er es vielleicht einmal in ein Orchester. "Denn wissen
Sie", erläutert er nun, sichtlich angeregt durch die Erinnerungen an
seinen Werdegang, "im Orchester zu spielen und immer wieder
mitzuerleben, wie die verschiedenen Chefs proben und dirigieren, ist
das A und O jeder Dirigentenausbildung, viel wichtiger als der beste
Dirigentenkurs." Bald konnte er öfter mal als Stellvertreter am
Schlagzeug im Orchestre National de la France mitwirken, wo er kurz
nach dem Krieg sogar unter Furtwängler die Pauken schlagen durfte,
dessen Dirigiergesten - Jarre bestätigt hierin das allgemein bekannte
Urteil über Furtwängler - sehr unpräzis, eigentlich eher ein Zittern als
ein Schlagen gewesen seien. Aber es sei von diesem Dirigenten ein
unwahrscheinlicher Magnetismus ausgegangen, der das ganze Orchester
unter Hochspannung gesetzt habe. Das Programm jenes Konzertes ist ihm
noch in bester Erinnerung: Die Nocturnes von Debussy, Till Eulenspiegel
von Richard Strauss und die 5. Symphonie von Beethoven. In einer
Probepause habe er Furtwängler gefragt, wo er bei einer Stelle in der
Fünften das Crescendo anfangen solle, da in der Partitur diesbezüglich
kein Hinweis zu finden war. Furtwänglers Antwort: "Regardez mes yeux!"
Der Gesichtsausdruck, das habe er nicht nur bei Furtwängler gelernt, sei
bei einem guten Dirigenten mindestens so wichtig wie der Taktstock.
Hier erwähnt er Carlos Kleiber, Simon Rattle und Pierre Boulez, welch
letzteren er als den wohl grössten Dirigenten unserer Zeit bezeichnet.
Mit Boulez hat Jarre 1949 die gesamte Hintergrundmusik zu den Filmen
von Jean-Louis Barrault eingespielt, Boulez an den Tasten, Jarre an den
Schlagwerken. Seither verbindet die beiden, obwohl sie als Komponisten
ganz verschiedene Wege eingeschlagen haben, eine enge Freundschaft. Dass
Maurice Jarre von Haus aus Schlagzeuger ist, hört man seinen
Filmmusiken immer wieder an. Der längste Tag wird musikalisch von den
Pauken dominiert, was auch akustisch die unvergleichliche
Schwarzweiss-Stimmung des Films unterstreicht. Verschiedenste
Schlagwerke spielen auch in seiner ethnisch inspirierten Filmmusik eine
wichtige Rolle. Und das eröffnende Paukensolo in Lawrence deutet gleich
an, wie prominent dieses Instrument im ganzen Filmverlauf immer wieder
eingesetzt werden sollte. Als Meister des Taktstocks (und wohl auch des
intensiven Blicks) aber ist Jarre nach wie vor auf allen Kontinenten bei
den renommiertesten Orchestern zu Gast. Selbstverständlich dirigiert er
auch seine Filmmusik in aller Regel selbst, sogar dann, wenn aus
subventionspolitischen Gründen mal ein anderer Dirigentenname auf der
Leinwand erscheint...
"Welchen Film würden Sie als Ihren wichtigsten bezeichnen?" - "Lawrence
of Arabia", kommt es ohne Zögern zurück. Dieser Film sei auch in der
heutigen Zeit noch nicht gealtert und in seiner Schönheit überwältigend.
Seine Zusammenarbeit mit David Lean, für ihn nicht nur ein grosser
Regisseur sondern auch ein aussergewöhnlicher Mensch und von jenem
Zeitpunkt an ein guter Freund, sei in seinem Leben ein Glücksfall
gewesen. Lean hat, Jarre zufolge, nicht allzuviel von Musik verstanden,
im Gegensatz etwa zu Peter Weir, mit dem er in fünf Filmen ebenfalls
wunderbare Zeiten erlebte, oder zu Lucchino Visconti, zu dessen
"Götterdämon" er die Musik beigesteuert hat. Beide seien in jedem
Musikstil zu Hause gewesen, hätten ebenso viel von Klassik wie von Jazz,
Rock oder Pop verstanden. Aber Lean habe einfach einen sehr guten
Instinkt gehabt für musikalische Stimmungen und Wirkungen. Mit ihm habe
er sich in allen weiteren Filmen fast wortlos verstanden, und sein
Verhältnis zu ihm als Komponist sei vergleichbar mit demjenigen von
Nino Rota zu Federico Fellini. Rota, den er als Filmmusiker übrigens am
meisten schätze. Dieser sei für ihn, Jarre, immer ein Qualitätsmassstab
gewesen, da dessen Musik auf subtilste Weise die Stimmungen des Films
aufzunehmen vermöge, ganz im Gegensatz zu mancher Filmmusik der letzten
zehn Jahre, die sich mit immer lauterem Gedröhne auf fast gewalttätige
Weise in den Vordergrund rücke.
"Habe ich vielleicht noch einen wichtigen Punkt vergessen, der für ein
Portrait von Ihnen wichtig wäre, Monsieur?""Non, je crois on a tourné un
peu autour de tout..." Aber nach einer Pause kommt ihm doch noch ein
sehr wesentlicher Punkt in den Sinn: "...vielleicht... wissen Sie...
die Frage ist, warum braucht es überhaupt Musik im Film. Die Musik muss
das ausdrücken, was der Film nicht sagen kann. Ich erinnere mich an eine
Szene in A Passage to India. Da betritt eine sehr viktorianisch
erzogene Dame einen Garten voller erotischer Statuen. Während etwa fünf
Minuten geht die Dame von Skulptur zu Skulptur, eine sehr lange Szene
ohne Dialog also. David Lean sagte zu mir: 'Deine Musik muss während
dieser Szene genau das ausdrücken, was die Frau bei ihrer Besichtigung
empfindet. Wenn das nicht gelingt, schneide ich die Szene raus.' - Donc
une exitation érotique, presque sexuelle" erläutert Maurice Jarre das
Anliegen David Leans. Dabei sei dieser aufgestanden und habe gesagt, die
Musik dürfe nicht von hier (Jarre steht auf und deutet auf seinen Kopf)
sondern von da kommen. Mit einer unzweideutigen Geste wird klar, woher.
Wir lachen."Und ist Ihnen diese Aufgabe leicht gefallen?" - "Pas
spécialement!" Und jetzt kommt er zum widerholten Mal auf die
Konzentration zu sprechen. "La concentration, c' est tout!" Wenn er
komponiere, gebe es wochenlang keine freie Minute. Die Musik verfolge
ihn auch in der Nacht, bis in seine Träume hinein, er überlege hin und
her: das müsste ich noch einfügen und jenes anders orchestrieren, und
das Problem des Einschlafens sei manchmal fast unlösbar gewesen. "Mais
j'ai trouvé un moyen contre ça." Es sei zwar unmöglich, sich von der
Konzentration zu befreien, aber man könne sie überlisten und auf ein
nebensächliches Gebiet lenken. In solch intensiven Schaffensphasen nehme
er vor dem Einschlafen jeweils ein Fremdsprachenbuch zur Hand,
möglichst eine ferne, sehr fremde Sprache müsse es sein, Türkisch zum
Beispiel, und dann büffle er eine halbe Stunde lang Vokabeln. Wenn er
diese beim Einschlafen repetiere, sei er spätestens nach einer
Viertelstunde weg.
Erschienen unter dem Titel „Stille ist die beste Musik“ in "du" Nr. 754, (S. 31 - 34) "Filmmusik", März 2005
Das katholische Fadengericht. Ein Puzzle
Schon als Knabe wusste ich recht genau, was für mich im Gaumen
zusammenpasste. Zum Geburtstag wünschte ich mir immer Tomatenspaghetti
mit paniertem Kalbshirn. Das pikant Säuerliche der Spaghettisauce, der
feine Knuspergeschmack der Paniermehlkruste und die Zartheit des
gebackenen Hirns, die sich so wunderbar vertrug mit den etwas zu weich
gekochten Teigwaren - das war einfach unübertrefflich. Aber darüber will
ich gar nicht schreiben, auch nicht über andere geglückte, nur
scheinbar paradoxe Kombinationen: nicht von den Kräuterschnecken auf
Sauerkraut in der Zürcher Kronenhalle, nicht von der Ente im Berner
National, mit in Laphroaig-Whisky marinierten, gedörrten Apfelschnitzen,
nein ich bleibe bei den Tomatenspaghetti! Ohne Hirn. Bei dieser
Wunderkombination von Teig und Sauce, wie wir sie auch in der
Ferienkolonie vorgesetzt bekamen, abends in der Jugendherberge, nach
anstrengendem Fussmarsch von der Lenzerheide nach Arosa. Ich will bei
dieser matschig roten, von Sauce triefenden, weichen Fadenmasse
verweilen, die man mühelos mit der Gabel hätte zu Brei zerdücken können.
Was wir aber nicht taten, denn schon als Kinder spürten wir, dass
Spaghetti, selbst in der Konsistenz von Kartoffelstock, auf jeden Fall
immer noch Spahgetti bleiben mussten, ein magisches Kindergericht, von
dem wir herunterschlingen durften, soviel wir nur mochten.
Später, in den Studentenjahren, wagte man sich selber an den Kochherd,
und es gäbe so manchen Spaghettifrass in geselliger Runde zu würdigen.
Irgendwann hörte man zum ersten Mal etwas von der richtigen al
dente-Cottura, und mit etwas Konzentration gelang sie auch hervorragend.
Mittels der neu in den Supermarktregalen auftauchenden Pelati und der
in Gläsern erhältlichen getrockneten Kräuter liess sich eine ganz
passable Sauce zusammenbrauen, die im Lauf der Jahre gewiss nicht an
Raffinesse einbüsste.
Dennoch: "Beim Italiener" um die Ecke schmeckten sie anders, die
Spaghetti, und zwar - so ungern man es sich eingestand - einfach besser!
Jahrelang wusste ich nicht, woran dies lag. Und darüber brütete ich
auch immer in Italiens Trattorien nach, besonders während
Ferienaufenthalten auf Sizilien. Zum Beispiel im Barcajolo, jenem
Beizchen am linken Rand des Strändchens von Mazzaro. Es liegt etwas
versteckt hinter den gestrandeten, bunt gestrichenen Fischerbooten, und
in der Mittagshitze lässt es sich dort trefflich bei einem Glas
Weisswein und einem Teller Spaghetti im Schatten einer Pergola sitzen.
Die Spaghetti Syracusana präsentierten sich auf dem Teller nicht einfach
als Teigwaren mit einer Sauce aus frischen Tomaten, grünen Peperoni,
Auberginen, schwarzen Oliven, Kapern und Sardellenpüree. Es waren nicht
Spaghetti mit Sauce, eher vielleicht Saucenspaghetti. Aber auch dieses
Wort will den Sachverhalt nicht ganz treffen. Denn wenn man diese
Teigwaren um die Gabel wickelt, hat man ganz einfach ein Röllchen
Spaghetti Syacusana dran, den herrlichen Duft von Tomate, Knoblauch und
Peperoni in der Nase, und der Gaumen nimmt diese Offenbarung nicht als
ein Teigwarengericht mit Sauce wahr, sondern als eine Einheit. Sauce und
Pasta sind gleichsam unzertrennlich, sogar das Gemüse erweist sich als
äusserst anschmiegsam! Und der im Süden Italiens besonders rigoros
interpretierte al dente-Garpunkt verhindert, bei aller Sämigkeit und
Olivenölseligkeit der Sauce, auf gleichsam maskuline Art ein Abgleiten
ins allzu Sämige.
Dank zäher Forschungsarbeit und unterstützt von einigen glücklichen
Zufällen ist es mir inzwischen gelungen, daheim absolut konkurrenzfähige
Syracusana zuzubereiten (meine Kinder, mehrfach sizilienerprobt auch
sie, halten diese sogar - parteiisch, wie Kinder eben sind, aber nicht
grundsätzlich beschränkt in ihrem kulinarischen Urteilsvermögen - für
die besten der Welt!), und die Methode lässt sich, jede Nonna würde es
gern bestätigen, problemlos auch auf andere, einfachere Arten von
Tomatenspaghetti übertragen. Dass die legendäre Nonna für ihre Sauce
nämlich immer auch etwas Spaghettiwasser verwendet, hatte sich bei uns
Barbaren diesseits des Gotthard schon lange herumgesprochen. Auch galt
es unter Liebhabern der italienischen Küche inzwischen als offenes
Geheimnis, dass in Italien der Knoblauch nicht in der Sauce mitgekocht,
sondern nur angebräunt wird im heissen Olivenöl, dieser würzigen
"Schmiere" des Gerichts. Eines Tages geriet mir ein Heine-
Minitaschenbüchlein über Pasta-Zubereitung in die Hände. Sozusagen die
deutsche Version der italienischen Teigwarenküche, die jedoch mit
wirklich kenntnisreich abgefassten Rezepten aufwartete. Da beeindruckte
mich besonders die ungeheure Menge von Olivenöl, die für jede Art von
Sauce angeordnet wird. Gleich tassenweise wird da bemessen! Vorsichtig
begann ich mich dieser etwas teutonisch anmutenden Dosierung anzunähern,
und mit Erfolg! Meine Spaghetti schmeckten dadurch schon italienischer.
Doch den letzten Kick versetzte mir ein eiliger Aufenthalt in einer
Messineser Trattoria. Wir hatten beim Umsteigen auf den Nachtzug nach
Mailand nur knapp Zeit für einen Teller Spaghetti. Dieser Teller hat
sich tief in meine kulinarisch orientierte Hirnfalte eingenistet, denn
die Spaghetti Syracusana, die auf ihm dampften, waren das Göttlichste an
Einheit zwischen Pasta und Sauce. Einmal riss der Kellner die
Schiebetür der Küchendurchreiche auf, um einige leer gegessene Teller
aus dem Weg zu schaffen, und ich sah für Sekunden die Nonna persönlich
am Herd, wie sie gerade eine Portion Spaghetti aus der Bratpfanne
aufwarf, ja richtig in die Luft katapultierte wie eine Omelette, sodass
ich sie wegen der niedrigen Durchreiche für den Bruchteil einer Sekunde
gar nicht mehr sah, ehe sie, von der Nonna geschickt aufgefangen,
wieder in der Pfanne landeten. Das war ein fast irrationaler, visionärer
Augenblick, einer im wörtlichen Sinn, denn schon knallte der Schieber
wieder zu, und der Spuk war vorbei.
Aber nun wusste ich es. Der Barbar giesst die Sauce über die Spaghetti.
Und die Italienerin macht es umgekehrt: Die Pasta stürzt sich, in der
Endphase des Kochvorgangs, auf die Sauce und wälzt sich mit ihr
orgiastisch auf dem heissen Lager der Bratpfanne. Und wie es sich für
ein gut katholisches Volk nicht anders geziemt: Der erste Liebesakt
führt zwangsläufig zur Heirat. Die Hochzeit aber ist perfekt!
Erschienen in "du" Nr. 748, Juli / August 2004, als Beitrag
zur kulinarischen Kolumne Souvenir d'un mariage