Textbeispiele
Erwin Messmer: Das katholische Fadengericht. Ein Puzzle
Erschienen in "du" Nr. 748, Juli / August 2004, als Beitrag
zur kulinarischen Kolumne Souvenir d'un mariage
Schon als Knabe wusste ich recht genau, was für mich im Gaumen zusammenpasste. Zum Geburtstag wünschte ich mir immer Tomatenspaghetti mit paniertem Kalbshirn. Das pikant Säuerliche der Spaghettisauce, der feine Knuspergeschmack der Paniermehlkruste und die Zartheit des gebackenen Hirns, die sich so wunderbar vertrug mit den etwas zu weich gekochten Teigwaren - das war einfach unübertrefflich. Aber darüber will ich gar nicht schreiben, auch nicht über andere geglückte, nur scheinbar paradoxe Kombinationen: nicht von den Kräuterschnecken auf Sauerkraut in der Zürcher Kronenhalle, nicht von der Ente im Berner National, mit in Laphroaig-Whisky marinierten, gedörrten Apfelschnitzen, nein ich bleibe bei den Tomatenspaghetti! Ohne Hirn. Bei dieser Wunderkombination von Teig und Sauce, wie wir sie auch in der Ferienkolonie vorgesetzt bekamen, abends in der Jugendherberge, nach anstrengendem Fussmarsch von der Lenzerheide nach Arosa. Ich will bei dieser matschig roten, von Sauce triefenden, weichen Fadenmasse verweilen, die man mühelos mit der Gabel hätte zu Brei zerdücken können. Was wir aber nicht taten, denn schon als Kinder spürten wir, dass Spaghetti, selbst in der Konsistenz von Kartoffelstock, auf jeden Fall immer noch Spahgetti bleiben mussten, ein magisches Kindergericht, von dem wir herunterschlingen durften, soviel wir nur mochten.
Später, in den Studentenjahren, wagte man sich selber an den
Kochherd, und es gäbe so manchen Spaghettifrass in geselliger Runde zu
würdigen. Irgendwann hörte man zum ersten Mal etwas von der richtigen al
dente-Cottura, und mit etwas Konzentration gelang sie auch
hervorragend. Mittels der neu in den Supermarktregalen auftauchenden
Pelati und der in Gläsern erhältlichen getrockneten Kräuter liess sich
eine ganz passable Sauce zusammenbrauen, die im Lauf der Jahre gewiss
nicht an Raffinesse einbüsste.
Dennoch: "Beim Italiener" um die Ecke schmeckten sie anders, die
Spaghetti, und zwar - so ungern man es sich eingestand - einfach besser!
Jahrelang wusste ich nicht, woran dies lag. Und darüber brütete ich
auch immer in Italiens Trattorien nach, besonders während
Ferienaufenthalten auf Sizilien. Zum Beispiel im Barcajolo, jenem
Beizchen am linken Rand des Strändchens von Mazzaro. Es liegt etwas
versteckt hinter den gestrandeten, bunt gestrichenen Fischerbooten, und
in der Mittagshitze lässt es sich dort trefflich bei einem Glas
Weisswein und einem Teller Spaghetti im Schatten einer Pergola sitzen.
Die Spaghetti Syracusana präsentierten sich auf dem Teller nicht einfach
als Teigwaren mit einer Sauce aus frischen Tomaten, grünen Peperoni,
Auberginen, schwarzen Oliven, Kapern und Sardellenpüree. Es waren nicht
Spaghetti mit Sauce, eher vielleicht Saucenspaghetti. Aber auch dieses
Wort will den Sachverhalt nicht ganz treffen. Denn wenn man diese
Teigwaren um die Gabel wickelt, hat man ganz einfach ein Röllchen
Spaghetti Syacusana dran, den herrlichen Duft von Tomate, Knoblauch und
Peperoni in der Nase, und der Gaumen nimmt diese Offenbarung nicht als
ein Teigwarengericht mit Sauce wahr, sondern als eine Einheit. Sauce und
Pasta sind gleichsam unzertrennlich, sogar das Gemüse erweist sich als
äusserst anschmiegsam! Und der im Süden Italiens besonders rigoros
interpretierte al dente-Garpunkt verhindert, bei aller Sämigkeit und
Olivenölseligkeit der Sauce, auf gleichsam maskuline Art ein Abgleiten
ins allzu Sämige.
Dank zäher Forschungsarbeit und unterstützt von einigen glücklichen
Zufällen ist es mir inzwischen gelungen, daheim absolut konkurrenzfähige
Syracusana zuzubereiten (meine Kinder, mehrfach sizilienerprobt auch
sie, halten diese sogar - parteiisch, wie Kinder eben sind, aber nicht
grundsätzlich beschränkt in ihrem kulinarischen Urteilsvermögen - für
die besten der Welt!), und die Methode lässt sich, jede Nonna würde es
gern bestätigen, problemlos auch auf andere, einfachere Arten von
Tomatenspaghetti übertragen. Dass die legendäre Nonna für ihre Sauce
nämlich immer auch etwas Spaghettiwasser verwendet, hatte sich bei uns
Barbaren diesseits des Gotthard schon lange herumgesprochen. Auch galt
es unter Liebhabern der italienischen Küche inzwischen als offenes
Geheimnis, dass in Italien der Knoblauch nicht in der Sauce mitgekocht,
sondern nur angebräunt wird im heissen Olivenöl, dieser würzigen
"Schmiere" des Gerichts. Eines Tages geriet mir ein Heine-
Minitaschenbüchlein über Pasta-Zubereitung in die Hände. Sozusagen die
deutsche Version der italienischen Teigwarenküche, die jedoch mit
wirklich kenntnisreich abgefassten Rezepten aufwartete. Da beeindruckte
mich besonders die ungeheure Menge von Olivenöl, die für jede Art von
Sauce angeordnet wird. Gleich tassenweise wird da bemessen! Vorsichtig
begann ich mich dieser etwas teutonisch anmutenden Dosierung anzunähern,
und mit Erfolg! Meine Spaghetti schmeckten dadurch schon italienischer.
Doch den letzten Kick versetzte mir ein eiliger Aufenthalt in einer
Messineser Trattoria. Wir hatten beim Umsteigen auf den Nachtzug nach
Mailand nur knapp Zeit für einen Teller Spaghetti. Dieser Teller hat
sich tief in meine kulinarisch orientierte Hirnfalte eingenistet, denn
die Spaghetti Syracusana, die auf ihm dampften, waren das Göttlichste an
Einheit zwischen Pasta und Sauce. Einmal riss der Kellner die
Schiebetür der Küchendurchreiche auf, um einige leer gegessene Teller
aus dem Weg zu schaffen, und ich sah für Sekunden die Nonna persönlich
am Herd, wie sie gerade eine Portion Spaghetti aus der Bratpfanne
aufwarf, ja richtig in die Luft katapultierte wie eine Omelette, sodass
ich sie wegen der niedrigen Durchreiche für den Bruchteil einer Sekunde
gar nicht mehr sah, ehe sie, von der Nonna geschickt aufgefangen,
wieder in der Pfanne landeten. Das war ein fast irrationaler, visionärer
Augenblick, einer im wörtlichen Sinn, denn schon knallte der Schieber
wieder zu, und der Spuk war vorbei.
Aber nun wusste ich es. Der Barbar giesst die Sauce über die Spaghetti.
Und die Italienerin macht es umgekehrt: Die Pasta stürzt sich, in der
Endphase des Kochvorgangs, auf die Sauce und wälzt sich mit ihr
orgiastisch auf dem heissen Lager der Bratpfanne. Und wie es sich für
ein gut katholisches Volk nicht anders geziemt: Der erste Liebesakt
führt zwangsläufig zur Heirat. Die Hochzeit aber ist perfekt!
Den Gegenständen ins Gesicht blicken Ansprache zur Buchvernissage "Formfächer / Formguide"
14. Dezember 2009, Hochschule der Künste, Zürich
Meine Damen und Herren
Der polnische Lyriker Zbigniew Herbert – er lebte von 1924 bis 1998 - hat ein Gedicht mit dem Titel Hocker geschrieben. Ich lernte es kennen im zarten Alter von etwa zwanzig Jahren, und es zählt seither zu den Gedichten, die mich durchs Leben begleiten. Ich möchte es Ihnen gerne vorlesen:
Hocker
Schliesslich lässt sich diese liebe nicht verheimlichen
der kleine vierbein auf eichenen füssen
mit rauher und erstaunlich kühler haut
alltagsgegenstand ohne augen doch mit einem gesicht
auf dem die runzeln der jahresringe reifes urteil deuten
graues eselchen der geduldigste aller esel
das fell ist ihm ausgefallen vom allzu langen fasten
und nur das büschel hölzerner borste
fühle ich unter der hand wenn ich ihn morgens streichle
- weisst du mein lieber es gab scharlatane
die sagten: es lügt die hand es lügt
das auge wenn es formen berührt die leer sind –
das waren böse menschen gegen die dinge gehässig
sie wollten die welt mit der angel ihrer verneinungen fangen
wie soll ich dir meine dankbarkeit meine bewunderung sagen
du gehorchst sofort auf jeden wink
mit grosser reglosigkeit erklärst du dem armen verstand
in deiner zeichensprache: wir sind wahr –
die treue der gegenstände öffnet uns schliesslich die augen
Die Treue der Gegenstände hat auch den Gestaltern dieses schönen
Formfächers, den wir heute feiern, die Augen geöffnet, und sie öffnet
die Augen nun auch uns, die wir dieses Kompendium betrachten und
bewundern dürfen. Als ich mir die abgebildeten und genau beschriebenen
Objekte dieser Sammlung – sie wurde mir im Vorfeld dieser Vernissage
elektronisch übermittelt - auf dem Bildschirm anschaute, fiel es mir
andauernd wie Schuppen von den Augen. Ich lernte den Dingen wieder ins
Gesicht blicken, auch solchen, mit denen ich mich durch täglichen
Gebrauch und Umgang längst entfreundet hatte - ja, Sie haben richtig
gehört: entfreundet, nicht gerade entfremdet, aber entfreundet. Denn sie
waren, statt Freunde zu sein im Sinne des Herbertschen Hockers, zu blossen Sklaven meines täglichen Gebrauchslebens verkommen.
Wenn ich mein Augenmerk beispielsweise auf die abgebildete Wäscheklammer
richte, überkommt mich ob des gleichsam naiv dreinblickenden
Erscheinungsbildes dieses vertrauten Objektes fast ein Gefühl der
Rührung. Aber wenn ich dann die Bildlegende dazu lese, erkenne ich, wie
kompliziert es ist, einen Gegenstand, und sei er noch so alltäglich und
vertraut, in die Sprache zu holen und ihn durch diesen sprachlichen Akt
mit vollem Bewusstsein zu würdigen. Mit vollem Bewusstsein, das ja
bekanntlich die Voraussetzung ist für das Gefühl, die
Beziehungsfähigkeit, ja letztlich für die Liebe.
Ich zitiere die Bildlegende zur Wäscheklammer:
Zwei baugleiche Holzschenkel werden durch eine mittige Schenkelfeder,
die beide Teile umfasst, aneinandergepresst. Durch eine gespiegelte
Hohlkehle an der Mittelachse entsteht die funktionsentscheidende
Aussparung, durch die sich die Klammer per Handstreich auf der
Wäscheleine hin-und herbewegen lässt.
Das ist doch ziemlich starker sprachlicher Tuback, angesichts eines
blossen „Chlüpperlis“ (oder „Chämmerlis“, wie die Basler sagen), das
normalerweise unter seinesgleichen in einer an der Leine hängenden
Stofftasche lagert, aus der wir es gedankenlos herausgreifen, um die
nächste Unterhose aufzuhängen.
Das Komplizierte im Banalen entdecken, und in diesem Komplizierten
wiederum - und jetzt in vertiefter Sichtweise - das Einfache, das ist
es, meine Damen und Herren, was den Designer mit dem Dichter verbindet
und die beiden auch wieder mit dem Philosophen.
Die philosophische Schule der Phänomenologie entwickelte die erkenntnistheoretische Methode der εποχή (epoché)
– das griechische Wort bedeutet Ausklammerung - eine Haltung also,
die jedes Vorwissen bewusst ausblendet, die den zu beschreibenden
Gegenstand so zu betrachten und zu beschreiben versucht, als ob er
vorher noch nie gesehen worden wäre, also quasi mit dem ersten, dem
jungfräulichen, mit dem reinen Blick. Der Philosoph möchte mit dieser
Methode der Beschreibung dem Wesen – oder lassen Sie mich das
altmodische Wort hier verwenden - der Seele des Gegenstandes auf die
Spur kommen, der Dichter versucht es, wie wir es eingangs bei Zbigniew
Herbert gehört haben, mit seiner sprachlich innovativen Kunst der
Beschreibung und Anrufung, und der Designer erfasst die Seele des
Hockers mit seiner gestalterischen Vorstellungskraft. Nur wenn er den
Stuhl als solchen in seinem ureigensten Wesen begriffen hat, kann er
eine neue Variante von ihm entwerfen, welche geeignet ist, uns das
Sitzen in der gewünschten alten und möglicherweise auch in einer neuen
Dimension zu offenbaren und, bevor unser Hintern das Vergnügen hat, auch
noch unser Auge damit zu erfreuen.
Als schreibender Zeitgenosse näherte ich mich diesem Kompendium
designerisch bedeutungsvoller Gegenstände mit grossem Respekt und
gleichzeitig mit sprachlicher Neugier. Bei der Lektüre der Bildlegenden
schlug mein Dichterherz zunehmend höher. Eine grosse sprachliche
Sorgfalt tat sich mir auf, eine Kunst der Beschreibung, die zwar nicht
selten auf die Schwierigkeit schliessen liess, Welt in Sprache zu holen,
die aber gerade deshalb immer wieder wunderbare poetische Blüten
schlug. Ich zog den Hut vor dem Kleiderständer, der (ich zitiere) aus
7 Buchenstäben mit minimalem Materialeinsatz die menschliche Gestalt
interpretiert. Legt man nun, so heisst es weiter, sein Kleid ab und dem
Gestell an, wird es Stellvertreter seiner Trägerin.
Wir befinden uns mitten im Zauberreich der poetischen Bildersprache, und
Eichendorffs berühmter Spruch bewahrheitet sich hier, wie in vielen
ähnlichen Passagen, auf wunderbare Weise:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Dieses Lied hebt an zu singen, wenn es beim Barhocker „Miura“ heisst: Jeder
Winkel hat seine Bewandtnis. Allesamt verfolgen sie die Massgabe, das
Hocken im Stehen zu unterstützen und das Stapeln des Hockers zu
ermöglichen. Der Hocker gilt als unzerstörbar, ein weiterer Vorteil, um
sich im Nachtleben zu behaupten.– oder bei einem Kleiderbügel: Zart
besaitet und auf das Tragen von Röcken ausgelegt. Die filigrane Form
besteht aus einem Gerippe.
Genau so, dichtet es in mir weiter, wie die filigrane Form der hübschen Trägerin letztlich aus einem Gerippe besteht.
Und da wir gerade bei den Röcken und den unter ihnen verborgenen
weiblichen Formen angelangt sind, ebenso, weil das Wort konvex in den
Beschreibungen immer wieder eine wichtige Rolle spielt, erlaube ich mir,
hier eine der - jedenfalls für die meisten Männer - erfreulichsten und
zugleich irritierendsten designerischen Formen am weiblichen Körper mit
einem eigenen Gedicht zu beleuchten:
Wunder
Es gibt Dinge die
grenzen an ein Wunder
Zum Beispiel dein Pullover
grenzt an ein Wunder
Zum Beispiel die Konturen
unter deinem Pullover
grenzen an ein Wunder
Nur das Wunder selbst
ist nicht zu erreichen
Womöglich sitzt es tiefer
Ich möchte dem hinzufügen, dass wir uns dem Wunder ein Leben lang nur annähern können. Aber je genauer wir es dabei nehmen, je unvoreingenommener unsere Betrachtungsweise dabei ist, je objektiver wir die Trägerin oder den Träger des Wunders wahrzunehmen und zu beschreiben versuchen, sei dieser nun ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier oder gar ein Mensch, desto näher kommen wir auf unserer Spurensuche dem Wunder selbst, von dem das Eichendorffsche Lied immerhin ein Lied zu singen weiss.
So blättern wir mit geniesserischer Aufmerksamkeit in diesem Fächer, der uns hinweist auf so viele schon fast vergessene Formen aus unserem früheren und aus unserem jetzigen Leben, etwa auf einen Kinderwagen aus den 50er Jahren, einen Teppichklopfer, eine Expressomaschine, eine Zitronenpresse, ein Bügeleisen, einen Reissnagel oder einen MP3 Player. Ja sogar der herzförmig gearbeitete Herzschrittmacher ist nicht einfach ein funktionales Ding, und es beeindruckt mich besonders, mit welch designerischer Sorgfalt und Intuition ein solcher Gegenstand gestaltet ist, der nachher, als Implantat, gar nicht mehr gesehen werden kann.
Eine wichtige Voraussetzung für die Wahrnehmung der Welt ist, um einen weiteren zentralen Begriff aus der phänomenologischen Philosophie zu zitieren, die Intentionalität, das heisst die Gerichtetheit des Bewusstseins auf einen Gegenstand oder Sachverhalt. Nach phänomenologischer Auffassung gibt es kein reines Subjekt und kein reines Objekt (Noema), sondern beide sind stets verbunden durch den Akt des Bewusstwerdens (Noesis), in dem die Gegenstände konstituiert werden. Ein schicksalshafte Verbindung zwischen Subjekt und Objekt resultiert aus dieser Philosophie, da das eine ohne das andere real gar nicht existiert. Das Objekt wird erst wirklich durch die Wahrnehmung, und das Subjekt ist in seinem Wesen ein Wahrnehmendes. Bei den Konturen unter dem Pullover erscheint diese Zuwendung des Bewusstseins zum Wahrgenommenen im alles verzaubernden Licht der Erotik, und ich glaube, dass der Künstler, und mithin auch der Designer, eine spezielle Gabe besitzt, von der wir uns alle eine Scheibe abschneiden sollten, nämlich die, sich nicht nur seinen Mitmenschen, sondern auch seinen Alttagsgegenständen mit einer Art von erotischer Energie zu stellen. Davon gibt beispielsweise das Stilleben in allen Epochen der Malerei beredtes Zeugnis ab, aber auch so mancher literarische Text, unter anderem ganz exemplarisch Herberts eingangs zitierter Hocker.
Eichendorffs Zauberwort, welches das schlafende Lied in allen Dingen endlich zum Singen bringt.
Die Autoren dieses Formfächers, Pascal Angehrn und Benjamin Hohl, deren
Mitarbeiterinnen im „Kernteam“, Juliane Bardtholdt und Julia Tauber,
sowie die binational kooperierenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
unter Studiengangsleiter Prof. Michael Krohn von der Hochschule der
Künste in Zürich und Institutsleiter Prof. Axel Müller Schöll von der
Hochschule für Kunst und Design in Halle, welche das Projekt betreuten,
haben diesen verbalen Zauberstab geschwungen über die im Formfächer
versammelten Gegenstände. Aber bevor sie mit dem Verfassen der
Bildlegenden zur Poesie vordrangen, bevor sie in jedem dieser
Gegenstände ein schlummerndes Lied zum Leben erweckten, arbeiteten sie
als phänomenologisch vorgehende Philosophen. Sie forschten, ganz trocken
und sachlich, für jeden Gegenstand nach fünf Stichwörtern, die zu
dessen Beschreibung geeignet sind. Bei der Wäscheklammer zum Beispiel
sind es die fünf Begriffe gebrochene Kante, lateral vorstehend, Nut, navettenförmig, stumpf, und beim Kleiderständer lesen wir die Vokabeln gekreuzt, karoförmig, drachenförmig, gleichschenklig, gespreizt.
Auf der Abbildung des Objektes werden diese Begriffe mit Pfeilen dem
entsprechenden funktionalen Gestaltungselement zugeordnet. Mit diesen
jeweils fünf Wörtern ist der Gegenstand erkenntnismässig unter Dach und
Fach, die geeigneten Begriffe für dessen designerische Erfassung sind
geprägt. Aber das Projekt mit dem Titel Begriffe begreifen wäre
zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn nicht zuerst, durch
phänomenologisch geschulte Anschauung, die Gegenstände selber begriffen
worden wären.
Erst jetzt kann die Interpretation der Gegenstände beginnen, und damit
die Poesie, und nun kommt der Zauberstab zum Einsatz, der in den
Bildlegenden auf der Rückseite des Fächers aus den Objekten so
wunderbare poetische Blüten schlägt.
Die menschlichen Formen, meine Damen und Herren, um nochmals bei meinem Gedicht über die Konturen unter dem Pullover anzuknüpfen, stehen immer wieder Pate beim Entwerfen schöner und nützlicher Gegenstände. Und damit wird eine Komplizenschaft zwischen Mensch und Gegenstand angedeutet, welche allerdings darauf angewiesen ist, dass einerseits der Mensch sie seinen Gegenständen immer wieder anbietet, und dass er anderseits die stumme und doch so beredte Bereitschaft seiner Gegenstände zu dieser Komplizenschaft wahrnimmt und in der Folge auch annimmt. Diese freundschaftliche Wechselbeziehung zwischen Mensch und Gegenstand deutet sich nicht nur beim herzförmig gearbeiteten Herzschrittmacher oder beim anthropomorphen Kleiderständer an. Wenn bei der Beschreibung des elektrischen Kippbalkenschalters aus dem Jahr 1952, den wir jeden Abend manipulieren, um den Tag noch etwas zu verlängern, bevor wir später der Nacht ihre ultimative Herrschaft überlassen, wenn also über den kommunen Lichtschalter nachzulesen ist: Die Schalterwippe tritt mit ihren erhobenen verschliffenen Höckern hervor und lässt sich im Dunkeln gut ertasten. Die Schrauben verleihen bei Tageslicht dem Objekt ein freundliches Gesicht und laden im Bedarfsfall dazu ein, die Abdeckplatte vor Malerarbeiten zu entfernen! und wenn ich dann nochmals den Schalter anblicke, den ich fünfzig Jahre lang manipulierte, ohne mir dabei etwas anderes zu denken als „Es werde Licht“ - oder „Schluss, aus jetzt, schlafen!“, dann lächelt mich dieser Schalter in dem von ihm geschalteten elektrischen Licht plötzlich an, und er strahlt übers ganze Gesicht: „Na, du alter Knacker, nimmst du mich nun endlich wahr?“
Zbigniew Herbert hatte Recht, wenn er am Ende seines Gedichts den Hocker sagen lässt:
wir sind wahr - (und ich ergänze des Hockers Rede mit: "Eben
darum wollen wir auch wahrgenommen werden!"), und Herbert hat weiterhin
Recht, wenn er daraus folgert:
die treue der gegenstände öffnet uns schliesslich die augen.
Spätestens dann, wenn uns die Welt des Designs mit einem so schönen Formfächer, wie er uns hier vorliegt, noch etwas auf die Sprünge hilft.
Ich danke den Gestaltern des Fächers, ich danke Frau Kuratorin Renate Menzi vom Museum für Gestaltung in Zürich, und den Fotografen Franz Xaver Jaggi und Umberto Romito, welche die Gegenstände aus der Museumssammlung so stimmungsvoll aufs wiesse Papier gebannt haben. Ich danke dem binationalen Forschungsteam. Ich bedanke mich bei den im Fächer versammelten Gegenständen, aber auch bei Ihnen, meine Damen und Herren, für die Geduld. Und ich danke Ihnen für Ihre offenen Augen. Und für Ihre offenen Ohren. Kurz, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Erwin Messmer